5_8_Nachkriegsjahre

Die Nachkriegsjahre

Die letzten Kriegstage

....Am 8. April. einem strahlenden Sonntagmorgen, schlug die erste Panzergranate ins Dorf. Wir saßen mit Sack und Pack zusammen mit vielen Dorfbewohnern im Turm der Kirche, wo wir verhältnismäßig sicher waren. Die Erregung der Bauern war groß, weil der sinnlose Widerstand von etwa 30 Soldaten ihr Eigentum und das Leben vieler Menschen in Gefahr brachte. Auch die Kinder waren unruhig. Der Krach der Granateneinschläge störte sie kaum, aber sie langweilten sich in dem dunklen, kalten Turm, und an Spielzeug hatte natürlich niemand gedacht. So erzählte die junge Frau Grimm ihnen Märchen, unermüdlich eins nach dem anderen. Nie vergessen wir die Geschichte von dem "Fischer und syner Fru" in dieser Situation. Gegen 16 Uhr erschienen die ersten amerikanischen Soldaten in der Kirche. Der Krieg war für uns zuende." So die Erinnerungen einer Flüchtlingsfrau aus Schlesien an den letzten Kriegstag in Lippoldsberg.

Ob die schutzsuchenden Einwohner bei der Wahl ihrer Zufluchtsstätte sich an die Ereignisse aus dem 30jährigen Krieg erinnerten, als die Lippoldsberger den plündernden, marodierenden Truppen Tillys auf dem Kirchturm standhielten, oder ob sie darauf hofften, dass die Besetzer vor der Kirche den meisten Respekt haben würden, muss letztlich ungeklärt bleiben, fast allen Dorfbewohnern war klar, dass jeder Widerstand gegen die übermächtigen amerikanischen Truppenverbände sinnlos war.

Dass es dennoch zu schweren Kampfhandlungen in Lippoldsberg kam, lag an deutschen SS-Truppen, die sich an der Bahnlinie Bodenfelde - Uslar verschanzt hatten. Zuvor hatte diese versprengte SS-Truppe, die aus Hitlerjugendlichen und Mitgliedern der Waffen-SS bestand  in einem Verzweiflungsakt die Weserbrücke von Gieselwerder gesprengt, in der Hoffnung den amerikanischen Vormarsch aufzuhalten.

 Der Grund für die vergleichsweise heftigen Kämpfe. die um Lippoldsberg ausgefochten wurden, muss in der Existenz der beiden kriegswichtigen Betriebe in der Nähe gesucht werden. Das Paraxol-Werk im Pfeiffengrund sowie die HIAG zwischen Bodenfelde und Lippoldsberg meinten die deutschen Soldaten bedingungslos verteidigen zu müssen. Deswegen nisteten sie sich in Lippoldsberg ein und leisteten dem überlegenen Gegner erbittert Widerstand, unter dem die Zivilbevölkerung schließlich besonders zu leiden hatte.

 Doch die 104. amerikanische Infanteriedivision folgte auf einer schnell errichteten Ponton-Brücke den zurückweichenden deutschen Verbänden zügig nach, nicht ohne vorher Lippoldsberg vom Reinhardswald aus beschossen zu haben, so dass das Dorf in den letzten Kriegstagen noch unter Zerstörungen zu leiden hatte. Opfer des Artilleriebeschusses, der sich vor allem auf die Plantage an der Gieselwerder Straße konzentrierte, wurde der Dachdeckermeister Johannes Schlimme, der von einem Granatsplitter tödlich getroffen wurde. Das Haus Mazet und die dazugehörige Scheune wurden durch den Beschuss vollständig zerstört.

 Bis gegen 17 Uhr am 8. April 1945 dauerten die Kampfhandlungen an, die Zivilbevölkerung in den Hauskellern erwartete sehnlichst das Ende, als der Bürgermeister den Ort an die Amerikaner übergab. Mit einem weißen Tuch in der Hand ging er die Gieselwerderstraße 

den Amerikanern entgegen; am Ortsausgang wurde er nach Waffen durchsucht und zum Kommandanten geführt. Da die Amerikaner Bürgermeister Blume nicht trauten, musste er drei Stunden lang auf dem Deckenschen Holzplatz isoliert stehen und durfte mit niemandem reden. Derweil rückten die Truppen in den Ort ein und besetzten das Paraxol-Werk im Pfeiffengrund, befreiten dort die Gefangenen und setzten die Wachmannschaften fest.

 Von den 30 SS-Soldaten, die sich dem Vormarsch entgegengestellt hatten, wurden 12 getötet; wenige Tage später wurden die meist jugendlichen Männer, die einen ebenso verzweifelten wie aussichtslosen Kampf ausgefochten hatten, begraben. Die übrigen hatten sich unter tatkräftiger Mithilfe der Dorfbevölkerung einer Gefangennahme durch Flucht entzogen. "Die Frauen sind zu denen hingegangen und haben Zivilbekleidung hingebracht, damit sie durchkamen." Über die Verluste der Amerikaner bei den Kämpfen um Lippoldsberg liegen keine genauen Angaben vor, jedoch sollen auch sie hoch gewesen sein.

Die 3. Panzerdivision der 1. US-Armee überquert am 10. April 1945 
bei Gieselwerder auf einer Ponton-Brücke die Weser.

Vom Paraxol-Werk rückten die Amerikaner weiter nach Osten vor, besetzten dabei auch Vernawahlshausen. Einige Tage zuvor hatte der Ortsgruppenleiter der NSDAP noch angeordnet, sogenannte Panzersperren an der Wahlsburg zu bauen, so kam es dazu jedoch nicht mehr. Lediglich einige Holzstämme schichtete man aufeinander, doch ein wirksames Hindernis waren sie nicht. 

 Eine Einwohnerin erinnert sich: „Ich weiß noch ganz genau, wie sie damals hier einrückten. Sie kamen oben von Oedelsheim runter. Wir haben so'ne Angst gehabt, das kann sich keiner vorstellen. Irgendwer hatte gesagt, das Dorf sollte geräumt werden. Ich weiß nicht, woran es gelegen hat, es ging hin und her, auf einmal kam die Botschaft, es wird nicht verteidigt. Ne weiße Flagge hatten sie auf den Kirchturm gebracht." ,.Hier im Dorf hatten wir noch einen Panzer stehen. Aber eine Verteidigung hat es schließlich nicht mehr gegeben. Die haben sich beeilt, dass sie mit ihrem Panzer hier aus der Ecke rauskamen. Da sind sie dann mit weggefahren, aber auf dem Weg nach Ahlbershausen unter der Lieth, da standen sie dann und konnten nicht mehr weiter. Die Amerikaner haben dann ganz schnell das Dorf besetzt. Mit ihren Panzern sind sie so in die einzelnen Straßen reingefahren, einzelne Geschütze haben sie aufgestellt und von da ab hatten wir so zwei, drei Tage lang Dauerbesetzung."

 Durch den Verzicht auf Verteidigung verlief in Vernawahlshausen die Besetzung durch die Amerikaner somit vollkommen unblutig.

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„Die schlechte Zeit"

 Wie bereits die letzten Kriegsjahre prägte sich die erste Nachkriegszeit bei den älteren Bewohnern als die „schlechte Zeit" ein. Das bezog sich weniger auf die Besetzung durch die Amerikaner, mit denen man sich relativ schnell arrangierte, sondern vor allem auf die Versorgungs- und Wohnsituation.

 Nach Kriegsende war das gesamte wirtschaftliche Leben zusammengebrochen, im Vordergrund der Überlebensstrategie stand die Sicherung der Lebensmittelversorgung. Wer einen Garten oder eine kleine Landwirtschaft besaß, ein Schwein oder ein Stück Federvieh im Stall hatte, konnte sich glücklich schätzen, denn von den Rationen, die man auf die Lebensmittelmarken bekam, konnte niemand satt werden.

 Der Hunger und die Not machten aber auch Energien frei und setzten die Phantasie in Gang: „Jedes Fleckchen, auf dem heute wieder Brennesseln wachsen, wurde glatt rasiert und gemäht. Jedes Fleckchen wurde urbar gemacht und Kartoffeln und Gemüse drauf gepflanzt. Die Not machte erfinderisch. Die Leute haben sich Schnapsbrennanlagen gebaut. Und die Raucher haben sich wieder Tabak gepflanzt. Da war so ein Qualm in der Bude, dass die Küche ganz schwarz war."

 Die Stoppelfelder wurden nach Ähren abgesucht, die dann in der Mühle zu Korn und Mehl verarbeitet wurden, und der Wald wurde von herumliegenden Asten und Zweigen ..befreit"; kaum ein Einwohner, der nicht mit Handwagen und Kiepe in den Wald zog, um Holz zu sammeln. Denn die Energieversorgung war ebenso wichtig wie die Nahrungsmittelversorgung. Weil die Kohlelieferungen wegen des zusammengebrochenen Transportnetzes gänzlich ausblieben, griff man auf den alten Rohstoff Holz zurück. Der Wald wurde systematisch und in des Wortes Bedeutung leergefegt: „Das war ja alles so knapp. Da sind wir alle in den Wald gegangen und haben Holz gesammelt, der Wald war ja wie ausgefegt, da fanden sie kein Stückchen Holz mehr, weil sich jeder etwas aus dem Wald holen musste." Obwohl es verboten war, schlug manch einer in einem unbeobachteten Moment auch mal einen Baum und nahm das Holz dann mit: „Jeder, der ins Holz fuhr, hatte seine Axt im Stiefel." Da die elektrische Stromversorgung ebenso unterbrochen war, war das Holz der einzige Energiespender in dieser schweren Zeit.

 Alle Lebensmittel, die man nicht dem Eigenanbau entnehmen konnte, mussten „organisiert" werden. Die Notlage zwang dabei zu Maßnahmen, die unter normalen Umständen zumindest rechtlich verwerflich waren: „Es gab ja keinen Zucker. Da haben wir Zuckerrüben geklaut bei den Bauern und davon Sirup gekocht. Die Bauern hatten ja genug Rüben. Wir waren schon zu mehreren hingewesen, aber die rückten nichts raus, da haben wir zwei Säcke voll geklaut. Die hatten ja genug und wir hatten Not. Da mussten wir uns eben was holen. Und den Sirup brauchten wir als Brotaufstrich. Es gab ja sonst keinen Süßstoff. Ich habe gedacht, das ist keine Sünde, wenn einer so viel hat und gibt nichts ab."

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Für Geld bekommt man kaum etwas

 Stellte der Nahrungsmittelklau nicht die Regel dar, so war das „Schwarzschlachten" von Schweinen in den Dörfern allgemein üblich und wurde von den örtlichen Polizisten ebenso toleriert wie das Schnapsbrennen. Viele sagten sich: „Ich habe im Krieg genug gehungert, jetzt will ich mich sattessen." ..Da haben wir ein Schwein eingetauscht und schwarz geschlachtet." Wie überhaupt das Tauschgeschäft blühte: ..natürlich hat man zu der Zeit gekungelt. Der eine hatte Schnaps, der andere hatte Öl oder sonst irgendwas. Natürlich wurde das getauscht. Der Tauschhandel war nie so schlimm wie in den Jahren nach 45. Da wurde ja gesagt, die Bauern hätten den ganzen Kuhstall mit Teppichen ausgelegt." „Die Arbeiter bei Gorny haben aus Stahlhelmen Kochtöpfe gemacht. Und ich musste mit den Sachen los und dafür was tauschen. Ich bin mit meiner Schwester losgefahren und habe für eine Jaucheschippe zwei Würste gekriegt. In Gottsbüren habe ich für Eimer Kartoffeln eingetauscht. Die Männer haben sich vom Schrottplatz alte Waschpötte geholt und an der Arbeit neue Böden reingemacht. Blech hatten die ja genug in der Firma. Das haben sich die Arbeiter genommen. Da kamen die Leute aus dem Ruhrgebiet hierher mit Kinderwäsche und Bettbezügen und haben dann dafür Lebensmittel eingetauscht. Alle haben getauscht und schwarz geschlachtet hier auf dem Dorfe. Mein Mann hatte im Kriege Verpflegung gefahren. Da hat er drei Paar Schuhe, immer einen allein nach Hause geschickt. Die hatte ich aufgehoben. Für die Schuhe habe ich in Gottsbüren ein Schwein eingetauscht, und zwar beim Bürgermeister."

 Der Schwarzmarkt war auch insofern ungeheuer wichtig für das eigene Überleben, da man für Geld kaum etwas bekam. Die offizielle Ökonomie war nahezu vollständig zusammengebrochen oder über die Ausgabe von Lebensmittelmarken stark reglementiert. Wer jedoch keine Naturalwaren zum Tauschen hatte, musste bittere Not leiden. In einem Tagebuch wurde unerbittlich festgehalten: „Der Schwarzhandel blüht schöner denn je. Stoff für einen Anzug: 2000 RM; 1 Liter Schnaps: 200 RM; 1 Liter Öl: 150200 RM; 1 belegtes Brot, doppelt: 15 RM; 1 Feuerstein: 5 RM; 1 Zigarette (englisch): 7-8 RM; 50 gr. Tabak: 60 RM; 1 Pferd: 6000-10 000 RM; 1 Paar Ferkel: 120 RM. Wir können solche Sachen nicht erschwingen. Ich verdiene im Monat brutto 250 RM und das geht drauf für den täglichen Unterhalt. Wer nichts zu tauschen hat, kann nichts bekommen."

 Bis zur Währungsreform 1948 hatte die Reichsmark nur eine geringe Kaufkraft, und man konnte selbst bei ausreichendem Angebot nur wenig für sein Geld kaufen. Da brachte es den meisten Arbeitern kaum etwas, dass sie schon bald nach Kriegsende in den meisten Fabriken der Gegend die Produktion wieder in Gang gesetzt hatten. Für die Löhne konnten sie sich nur selten etwas kaufen.

 Waren die Lebensbedingungen der eingesessenen Bevölkerung schon sehr eingeschränkt, so verschärfte der riesige Flüchtlingsstrom die Situation noch zusätzlich: „Die Flüchtlinge kamen überwiegend aus dem Sudetenland, bei Marienbad und Karlsbad aus der Ecke. Die waren aus einer Gegend und kannten sich wohl auch schon. Die kamen alle auf einen Schwung nach hier, mit Eisenbahntransporten."

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In einem Raum leben sieben Personen

 Auf die Gemeinden Lippoldsberg und Vernawahlshausen kamen durch den Flüchtlingsstrom kaum lösbare Probleme zu. Der Bevölkerungsanstieg beider Dörfer lässt dies erahnen: Hatte Lippoldsberg 1939 noch 1424 Einwohner, so lebten 1948 etwa 2200 Menschen im Dorf; dies entspricht einem Wachstum von über 50%. Der Bevölkerungsanstieg von 1939 bis 1946 war in Vernawahlshausen noch höher, fast 60% mehr Menschen lebten im Dorf, das sich von der Anzahl der Häuser kaum erweitert hatte.

 Die Wohnungsnot nahm katastrophale Formen an, und sowohl die Gemeindevertreter wie auch die Betroffenen befanden sich in einer unerquicklichen Lage. „Als ich in der Gemeindevertretung war, war ich auch Mitglied in der Wohnungskommission. Wir mussten rumgehen und mussten Zimmer beschlagnahmen, damit wir die Vertriebenen unterkriegten. Das war sehr schwierig damals. Wir haben bestimmt, wer wo untergebracht wurde. Und da haben wir natürlich Krach gekriegt, weil die Leute keine Zimmer abgeben wollten. Das war eine ganz undankbare Aufgabe."  

„Bei uns im Haus lebten sieben Personen in einem Raum und oben hatten sie noch zwei Schlafzimmer. Und oben unterm Dach waren fünf Personen untergebracht und in der mittleren Etage waren vier. Das war grausam." „Da war alles aufeinandergepfercht. Gerne hergegeben hat hier keiner was. Aber es ist auch kein Flüchtling vor die Tür gesetzt worden. Das hat ein, zwei Tage gedauert, dann hat der Altbürger mit dem Neubürger das Stück Brot geteilt. Im Anfang haben sie sich so gegenübergestanden, der Einheimische wollte nichts hergeben und der andere brauchte was, aber das hat keinen Krach gegeben. Da muss ich immer wieder staunen, wie gut, wie schnell und wie reibungslos doch die Vertriebenen sich eingefügt haben." Jeder musste sich einschränken, doch die Flüchtlinge litten ohne Zweifel am meisten unter

 ihrer Situation. Entwurzelt der alten Heimat, fremd und unsicher in einer neuen Umgebung, ohne materielle und finanzielle Mittel mussten sie sich durchkämpfen. „Als wir hier ankamen, hatten wir ja sozusagen nix. Wir hatten wohl 50 Kilogramm dabei und das Handgepäck. Da wurde uns erst ein Bett zur Verfügung gestellt, da schliefen wir zu dritt drin. Das war schon viel wert. Und es dauerte dann lange, bis wir endlich mal Stühle zu kaufen bekamen. Einen Tisch hatte uns ein Nachbar geborgt, und dann waren wir lange Zeit ohne Ofen und kochen mussten wir drüben beim Hausbesitzer. Das war ein wirklich sehr schwerer Anfang."

 Am meisten belastete die Flüchtlinge die Wohnraumnot: „Wir haben fünf Jahre in einem Zimmer gewohnt, zu dritt in einem Zimmer mit 11 Quadratmetern. Die Wohnungsknappheit blieb noch lange." Im Gegensatz zu den Eingesessenen verfügten die Flüchtlinge auch nicht über Garten- oder Ackerland, um sich darüber die Grundbedürfnisse zu sichern. Sie waren vorwiegend auf die kargen Rationen angewiesen, die es auf die Lebensmittelmarken gab, versuchten bei den Bauern gegen Naturalentlohnung Arbeit zu bekommen oder Odland nutzbar zu machen, oder sie gingen in den Wald, um Beeren zu pflücken.

In den Gebäuden des ehemaligen Paraxol-Werkes kamen viele Flüchtlinge unter

 Erschwerend kam hinzu, dass es nicht genügend Arbeitsplätze für die stark angestiegene Bevölkerung gab. Während die Bauern und auch die alteingesessenen Handwerker mit ihren vielfältigen Verbindungen zu gewissen Verdienstmöglichkeiten kamen, sah die Lage der Arbeiter düster aus. Die Betriebe der Gegend wurden zwar frühzeitig wieder in Gang gesetzt, doch erst ganz allmählich konnten die Maschinen wieder repariert werden - Ersatzteilbeschaffung war die bedeutendste Hürde; ganz allmählich kamen die Rohstofflieferungen wieder ins Rollen, wurde die Energieversorgung wieder geregelt und die Produktion wieder aufgenommen. Der Arbeitskräftebedarf war daher zunächst begrenzt: „Ja und dann bemühte ich mich um eine Lehrstelle. Hat auch lange gedauert. Ganz lange. Bin mit dem Fahrrad nach Göttingen gefahren. 46 hat es dann geklappt. Da konnte ich Elektriker in Göttingen lernen. Als die Lehre aus war, war auch die Arbeit aus. Ausgelernt, da kannst du gehen. Das war 49. Da war auch wenig Arbeit hier in der Gegend. Da war ich 14 Tage arbeitslos, dann bin ich nach Ilse in Uslar. Eine andere Arbeit war hier nicht zu kriegen. Ohne Fürsprache von Verwandten bekamst du damals keine Arbeit. Du konntest noch so gute Zeugnisse haben. Wenn ich keine Fürsprache von der Verwandtschaft meiner Frau gehabt hätte, wäre ich auch nicht angekommen. Wenn zu der Zeit einer nicht spurte, der ging raus. Da standen zehn Mann vor der Tür. Das haben die dir auch ins Gesicht gesagt."

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Konkurrenz um Arbeitsplätze

 Vermochten die heimischen Arbeiter noch über Beziehungen einen Arbeitplatz bekommen oder weil sie bereits vor dem Krieg in derselben Firma gearbeitet hatten, so war die Lage für die Flüchtlinge ungleich ungünstiger. Sie bekamen häufig die übriggebliebene Arbeit. „Die Flüchtlinge waren ja auch primitive Arbeiten gewöhnt. Wir hatten zum Beispiel Leute aus dem Sudetenland, die konnten das, mit der Hand arbeiten." Andererseits traten sie natürlich in die Konkurrenz um die Arbeitsplätze ein, und manch ein Einheimischer fühlte sich von den Flüchtlingen um den Arbeitsplatz gebracht.

 Viele Flüchtlinge waren behelfsmäßig in den Baracken des Paraxol-Werks untergebracht worden, und sie bekamen bei der Demontage des Werkes und beim Neubau der Tuberkulose-Heilstätte eine Beschäftigung. Noch 1948 waren beim Aufbau der Krankenanstalt „Hunderte von Flüchtlingen beschäftigt".""

 Ein Begehren der Vernawahlshäuser Gemeindevertretung aus dem Jahre 1949 wirft ein Schlaglicht auf die katastrophale Arbeitssituation: Bei der Einstellung neuer Arbeitskräfte auf der Baustelle der Inneren Mission sollten nach Meinung der Gemeindevertreter die Vernawahlshäuser durch das Arbeitsamt Hofgeismar besonders berücksichtigt werden, da in Vernawahlshausen ausgesprochen viele Flüchtlinge arbeitslos waren. Etwa 90% aller Arbeitslosen aus Vernawahlshausen waren Flüchtlinge.

 Aufgrund der schlechten Arbeitsmarktlage versuchten bereits in den ersten Nachkriegsjahren viele Zugewanderte, in beschäftigungsintensivere Gegenden weiterzuziehen. Das Ruhrgebiet war dabei für sie eine ebenso attraktive Region wie der Frankfurter Raum. So bestimmte letztlich die Arbeitsmöglichkeit, wohin sich die Sudetendeutschen orientierten. Nur die wenigsten blieben in unserer Gegend hängen, für viele war der Weser-Solling-Raum eine Durchgangsstation. Doch erst im Verlauf der 50er Jahre „normalisierte" sich die Situation in Lippoldsberg und Vernawahlshausen wieder.

 Schwierigkeiten im Zusammenleben der Einheimischen mit den Zugezogenen resultierten nicht allein aus den materiellen Zwängen und der unzulänglichen Wohnsituation, sondern auch bezüglich der Lebensweise beider Gruppen gab es gravierende Unterschiede, die für alle gewöhnungsbedürftig waren. Da war zuallererst die unterschiedliche Konfessionszugehörigkeit, die das Miteinander so schwierig gestaltete: „Die Flüchtlinge, die zu uns kamen, waren überwiegend katholisch. Unsere Gemeinde hatte doch bis dahin vielleicht ein oder zwei katholische Familien hier. Wir kannten doch von den Katholischen gar nichts. Ich weiß noch, dass der Lehrer mit uns einmal nach Herstelle gefahren ist, da sollten wir uns mal ne richtige katholische Kirche ansehen."

 Die rein evangelische Bevölkerung, in deren alltäglichem Leben die Religion und die Kirche auch nach dem Krieg tief verwurzelt waren, hatte ihre Schwierigkeiten im Umgang mit den Angehörigen der anderen Konfession. Besonders als die Katholiken ihre Gottesdienste in der evangelischen Klosterkirche in Lippoldsberg feiern wollten, gab es unüberhörbare Mißtöne: „Die waren ja katholisch und da mussten sie auch in unsere Kirche. Die Mutter Gottes, die stand dabei K. im Zimmer und die haben sie immer geholt. wenn sie Kirche hatten." „Die hatten ja keine Kirche und deshalb wollten sie ja sogar unsere Kirche beanspruchen, weil die ja früher ein Kloster gewesen war. Da war es aber vorbei mit der Freundschaft. Wie es um die Kirche ging, da ging es richtig los, das ließen wir aber dann doch nicht zu. Später haben sie ja auch dann unten das Grundstück gekriegt und haben dann da ihre Kirche hingebaut."

 Erst allmählich baute sich die Skepsis und das Mißtrauen gegeneinander ab, durch Verheiratungen wurden verwandtschaftliche Bindungen geknüpft und vor allem in der Jugend entwickelten sich Freundschaften, die auch auf die Erwachsenen abfärbten.

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Der politische Neuanfang findet kaum statt

 Neben den alltäglichen Sorgen und Nöten. dem Kampf ums nackte Überleben, der Sorge um eine ausreichende Lebensmittelversorgung und der Beschaffung notwendigen Wohnraums, traten die große und kleine Politik in Lippoldsberg und Vernawahlshausen in den ersten Nachkriegsjahren deutlich in den Hintergrund. Nur sehr wenige Einwohner engagierten sich aktiv im politischen Leben.

 Unmittelbar nach Kriegsende war von den Alliierten die sogenannte Entnazifizierung eingeleitet worden um NS-Aktivisten ihrer gerechten Bestrafung zuzuführen.

 Begonnen in der Absicht, sämtliche Nazis aus dem öffentlichen Leben auszuschalten, um so eine grundlegende demokratische Erneuerung zu ermöglichen, entpuppte sich die gesamte Aktion recht bald als eine große Farce. In Lippoldsberg und Vernawahlshausen, wie in Deutschland überhaupt, wurden nur einige führende Funktionäre erfasst und diese nur teilweise verhaftet; den meisten gelang es schnell, weitgehend entlastet oder als Mitläufer eingestuft zu werden. Immerhin hatte es in Lippoldsberg über 200 NSDAP-Mitglieder gegeben, von denen etwa 60 bereits bis einschließlich 1933 in die Partei eingetreten waren. Doch nur elf ehemalige Mitglieder wurden nach 1945 vorübergehend festgesetzt.

 Selbst die brutalsten SS-Schläger aus Lippoldsberg oder Arenborn waren schon nach kurzer Zeit wieder entlassen worden, und in Bodenfelde war Ende der 40er Jahre sogar ein Gründungsmitglied der NSDAP zum Bürgermeister aufgestiegen. Auch die „alten Kämpfer" aus Lippoldsberg und Vernawahlshausen waren nach kurzer Zeit rehabilitiert, sie ließen sich von unbescholtenen Bürgern Entlastungszeugnisse ausstellen und kürzten damit oftmals ihre Bewährungszeit entscheidend ab.

 Selbst an der Spitze der Gemeinden, auf den Bürgermeistersesseln, nahmen alte Nazis wieder Platz. Nach den Kommunalwahlen 1948 mussten von 26 neugewählten Bürgermeistern im Kreise Hofgeismar 13 Kandidaten vom Innenministerium bestätigt werden, weil sie während des Nationalsozialismus Mitglied der NSDAP gewesen waren. Auch der in Vernawahlshausen einstimmig gewählte neue Bürgermeister benötigte diese Bestätigung, weil er „PG" gewesen war, und der von der SPD vorgeschlagene Bürgermeister in Lippoldsberg war in der Kategorie der Mitläufer eingestuft.

 Nach Kriegsende wurde sowohl in Lippoldsberg als auch in Vernawahlshausen versucht, einen politischen Neuanfang zu wagen. Von der Besatzungsmacht waren die NSDAP und deren Untergliederungen verboten worden, die Funktionsträger der Partei, wie Bürgermeister und Ortsgruppenleiter, ihrer Ämter enthoben und teilweise verhaftet worden, und in den Gemeinden waren von den Amerikanern Bürgermeister eingesetzt worden. Neben diesen administrativen Vorgaben. die von außen gesetzt wurden, versuchten aber auch einige Männer aus den Orten selbst das politische Leben in der Tradition der Weimarer Republik wileder aufzunehmen.

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Vernawahlshausen: Die Gemeinschaft überdeckt Probleme

 In Vernawahlshausen veranstaltete am 5.10.1945 eine kleine Gruppe von früheren SPD-Mitgliedern eine Versammlung zur Gründung einer sozialdemokratischen Ortsgruppe. 16 Personen erklärten ihren Eintritt in die SPD, um „in demokratischem Sinne die Zukunft zu gestalten". Neben der aktiven Mitarbeit bei der Entwicklung der Gemeindeangelegenheiten wurde auf der Gründungsversammlung auch beschlossen, in der Tradition der 20er Jahre einen Arbeiter-Turnverein und Gesangverein wiederzugründen.

 Im Vordergrund der Aktivitäten der folgenden Wochen und Monate standen jedoch eindeutig die Vorbereitungen der ersten freien Gemeindewahlen nach über 12 Jahren, die am 24.1.1946 stattfanden. Die SPD war die einzige politische Organisation im Ort und stellte demzufolge auch eine eigene Liste für die Kommunalwahl auf.

 Interessanterweise wurde die Kandidatenliste, nur einen Tag nachdem sie aufgestellt war, grundlegend in ihrer personellen Zusammensetzung geändert. Kandidierten ursprünglich ausschließlich SPD-Mitglieder auf der Liste, so wurde sie kurzfristig erweitert um eine Reihe unorganisierter Ortsbürger. Der Bezirksvorsitzende der SPD begründete dies damit, dass „eine Liste auf breiter Grundlage, eine sogenannte Gemeinschaftsliste, die nicht als reine Parteiliste zu betrachten ist, sondern Vertreter aus allen wirtschaftlichen Schichten der Gemeinde Vernawahlshausen" aufnimmt, am besten die Interessen der Gemeinde wahrnehmen könnte. Ausgeschlossen wurden lediglich ehemalige NSDAP-Mitglieder, denen auch das Wahlrecht entzogen war. 

 In diesem Beschluß kam ganz deutlich zum Ausdruck, dass die SPD sich darum bemühte, unter Ausschluß der alten Nazis, alle Bürger in den Prozess des Wiederaufbaus mit einzubeziehen. Alle sollten in die politischen Entscheidungen mit eingebunden werden und auch Verantwortung übernehmen. Ziel dieses Beschlusses war sicherlich auch, eine Dorfgemeinschaft über Partei- und Standesgrenzen hinweg zu institutionalisieren. Ob man damit einer Vorstellung nachhing, die sich schon so oft als Illusion herausgestellt hatte, mag dahingestellt bleiben. Unbehagen empfand manch einer schon unmittelbar nach diesem Beschluß:

 „Durch einen 2. Vorschlag wären die Geister mehr voneinander getrennt worden und es wäre auch demokratischer gewesen", äußerte ein führender Sozialdemokrat kurz vor der Wahl.

 Zwar wurde die Wahl am 27. Januar 1946 zu einem Erfolg für die Gemeinschaftsliste - es gab kaum Gegenstimmen, und Bürgermeister Brauns, der der SPD angehörte, wurde einstimmig gewählt -, doch bereits zwei Jahre später, bei den Gemeinde- und Kreistagswahlen am 25.4.1948, war die 1946 beschworene politische Gemeinschaft dahin. Drei Listen kandidierten für die Gemeindevertretung: eine Flüchtlingsliste, eine Liste „Gemeindewohl", auf der Bauern und ehemalige NSDAP-Mitglieder sich zusammengefunden hatten und eine Listenverbindung von Kleinlandwirten und Arbeitern, die der SPD nahestand.

 

Die Schwülmebrücke in Vernawahlshausen

 Das Ergebnis spiegelte die unterschiedlichen politischen Anschauungen und sozialen Verhältnisse im Dorf realistisch wider. Jede der drei Listen bekam etwa ein Drittel der abgegebenen Stimmen und stellte damit jeweils drei Mitglieder in der Gemeindevertretung. Die Flüchtlinge als eine bevölkerungsmäßig starke Minderheit machten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl auch in dieser politischen Willensbekundung deutlich. Über die politischen und weltanschaulichen Differenzen hinweg hat sie ihr gemeinsames Schicksal, ihr Status als -Minderheit und ihre vergleichsweise schlechten Lebensbedingungen zusammengeschlossen. Da ihnen bewußt geworden war, dass der Aufenthalt im Westen kein Übergangsstadium war, versuchten sie, über die Gemeindevertretung ihre spezifischen Interessen durchzusetzen.

 Bemerkenswert war das Abschneiden der beiden anderen Listen, auf denen die alteingesessenen Dorfbewohner kandidiert hatten. Im Vorfeld der Wahlen war noch von der SPD versucht worden, wieder eine Einheitsliste ähnlich der von 1946 zustandezubringen. Doch diesmal ohne Erfolg. Offensichtlich fühlten sich die größeren Bauern und auch alte „Parteigenossen" wieder in einer Position der Stärke, schlugen das Angebot einer Gemeinschaftsliste aus, und der für sie beachtliche Wahlerfolg gab ihnen schließlich recht.

 Die bereits in der Endphase der Weimarer Republik beobachtete Zweiteilung des Dorfes in die Bessergestellten und die kleinen Leute schlug sich bei dieser Wahl offensichtlich auch in der politischen Willensbildung nieder. Bemerkenswert bleibt jedoch die Tatsache, dass ausgerechnet alte NSDAP Mitglieder diesen Erfolg erringen konnten. Der Neuanfang nach dem Kriege war auf der politischen Ebene offensichtlich in den Ansätzen steckengeblieben.

 Als Folge des politischen Patts war es äußerst schwierig, eine handlungsfähige Gemeindevertretung zu bekommen. Der damalige SPD-Vorsitzende notierte: „Brauns wollte kein Bürgermeister wieder werden. und bei der Sitzung am 20.5. hätten wir keinen anderen Bürgermeister durchbekommen, wenn die Flüchtlinge ihn nicht wollten. Ich schlug daher vor. man sollte uns den 1. Schöffen zuerkennen, und wir würden dann bei der Bürgermeisterwahl unsere Stimme für Eduard Henne abgeben. Als 1. Schöffe war von A. Nolte auch E. Quentin vorgeschlagen. Es kam zur Abstimmung und unser Vorschlag (Brauns) wurde mit 5 Stimmen gegen 2, bei 2 ungültigen Stimmen gewählt."

 Das politische Klima, das bereits stark vom kalten Krieg geprägt war - die Berlin-Blockade folgte noch im selben Jahr -, fand seinen Niederschlag auch in den Ergebnissen zur Kreistagswahl, die am selben Tag wie die Gemeindewahlen stattfand. Von 666 Bürgern, die ihre Stimmen abgaben, votierten 342 für die CDU, aber nur 203 für die Sozialdemokraten.

 Der Wiedereintritt konservativer, teilweise sogar nationalsozialistisch gesonnener Kräfte in die Gemeindepolitik entsprach einer Grundstimmung, die eher auf Verdrängung und Vergessen des Gewesenen ausgerichtet war. Aufgrund der allgegenwärtigen materiellen Not blieb für das Nachdenken über die Ursachen und Mitbeteiligung oder Mitschuld an der Katastrophe des Nationalsozialismus kaum Raum und Zeit. Im Widerspruch zu der bei den Wahlen zum Ausdruck gekommenen Spaltung der politischen Vorstellung in zwei Lager herrschte offensichtlich in weiten Kreisen der Dorfbevölkerung ein Streben nach Harmonie, so dass es für viele durchaus begrüßenswert war, dass auch die alten Kräfte wieder ihren Platz in der Gemeindepolitik einnahmen.

 Bezeichnenderweise entsprach dies dem Vorgehen der sozialdemokratischen Ortsgruppe aus dem Jahre 1946, allerdings mit dem Unterschied, dass die konservativen Kräfte in dem Moment, als sie sich stark genug fühlten, auch die politische Führung zu übernehmen, konsequent zugriffen. In den darauffolgenden Jahren gaben sie diese Führungsrolle nicht wieder ab.

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Lippoldsberg: Die Vergangenheit wird verdrängt

 Die politische Entwicklung in Lippoldsberg in den ersten Nachkriegsjahren unterschied sich von der in Vernawahlshausen kaum, obwohl hier die Voraussetzungen für einen grundsätzlichen Neuanfang auf Grund der braunen Vergangenheit und der politischen Kräfteverhältnisse wesentlich ungünstiger waren.

 Auch in Lippoldsberg wurde von den Amerikanern ein Bürgermeister eingesetzt, der jedoch bereits nach der ersten Kommunalwahl im Januar 1946 durch den parteilosen Landwirt Karl Becker abgelöst wurde. Leider liegen über diese erste Gemeindewahl keine Unterlagen vor. Die Zusammensetzung der Gemeindevertretung und die Wahl des Bürgermeisters lässt jedoch darauf schließen, dass auch in Lippoldsberg Vertreter aller Schichten in dem Selbstverwaltungsorgan Sitz und Stimme erhielten. Da während der Nazi-Zeit in Lippoldsberg ausgesprochen viele Einwohner Mitglied der NSDAP gewesen waren, denen 1946 jegliche öffentliche Betätigung untersagt war, gab es für die alte Dorfelite zunächst Probleme, unbelastete Repräsentanten für eine öffentliche Aufgabe zu finden. Diese Konstellation bot der Arbeiterschaft die unverhoffte Möglichkeit, aus ihrem Schattendasein herauszutreten und aktiv in die Politik einzusteigen. Eine Chance, die offensichtlich beim Schopfe gepackt wurde.

 Erstmals in der Geschichte des Ortes wurde ein Ortsverein der SPD gegründet, der zu der Kommunalwahl 1948 eine eigene Kandidatenliste aufstellte und auf Anhieb die Hälfte aller Stimmen erhielt, so dass sechs der insgesamt zwölf Gemeindevertreter der SPD angehörten. Die anschließende Bürgermeisterwahl brachte der SPD, die mit der Liste der Flüchtlinge ein Zusammengehen verabredet hatte, einen weiteren Erfolg; ihr Kandidat, der Müllermeister Bierwirth, wurde mit 8 Stimmen gegen den alten Statthalter Becker in das Amt des Dorfoberhauptes gewählt.

 Gerade in einer Gemeinde, die ehemals so deutlich von der NSDAP dominiert worden war, muss dies als Erfolg betrachtet werden. Andererseits ist davon auszugehen, dass diese Mehrheit nicht auf eine grundsätzlich geläuterte politische Einstellung schließen lässt. Vielmehr gilt für Lippoldsberg in verstärktem Maße dasselbe wie für Vernawahlshausen. Die Vergangenheit musste verdrängt werden, um sich mit aller Energie den Aufgaben des Wiederaufbaus zuzuwenden. Dies fiel den meisten umso leichter, als die zu bewältigenden materiellen Alltagssorgen eindeutig im Vordergrund standen.

 Wie bereits erwähnt, musste der 1948 neugewählte Bürgermeister wegen seiner Zugehörigkeit zur NSDAP vom Innenministerium bestätigt werden. Um dies zu beschleunigen, stellte ihm der Vorsitzende des SPD-Ortsvereins einen ..Persilschein" aus, der schlaglichtartig die Mentalität der Zeit beleuchtet. Nicht etwa eine demokratische politische Einstellung stand dabei im Vordergrund, sondern andere Qualitäten sollten ihn ins rechte Licht rücken: „Der Bürgermeisterkandidat muss die Voraussetzung bieten, dass er eine korrekte Haltung in jeder Weise gegenüber den Gemeindegliedern aufweist und innehält. Es muss dabei die Voraussetzung gegeben sein, dass der von uns gestellte Bürgermeister auch geistig in der Lage ist, ein vorbildliches Zusammenarbeiten mit seinen vorgesetzten Behörden auch in der heutigen schweren Zeit zu garantieren. Er muss als ordentlicher, strebsamer Mann das Ansehen des überaus größten Teils der Gemeinde genießen und sozial mitempfinden mit den in Not sich befindenden Einwohnern und Neubürgern."

 Der Blick war nach vorne gerichtet. Alltagsprobleme wie die Wohnungsfrage, Beseitigung von Kriegsschäden standen im Mittelpunkt der Arbeit der Gemeindevertretung. Ein tatkräftiger Bürgermeister, der in allen Bevölkerungskreisen angesehen war, schien auch den Sozialdemokraten am ehesten die Gewähr dafür zu bieten, dass die anstehenden Aufgaben erfolgreich gelöst wurden.

 Die Aufarbeitung und damit Bewältigung der Vergangenheit, die eine Voraussetzung für einen grundlegenden Neuanfang gewesen wären, traten angesichts der drückenden täglichen Probleme in den Hintergrund.

 Der 1948 erstmals gewählte Bürgermeister Bierwirth blieb bis zur Gemeindereform 1971 kontinuierlich im Amt und wurde immer mit stattlichen Mehrheiten wiedergewählt.

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